In frühen Jahren - ich weiß gar nicht, ob ich schon auf der Welt war - trug meine Mutter ein Bäumchen nach Hause.
Sie grub es im Garten ein und dank ihrer Pflege wurde aus dem Bäumchen bald ein Baum. In weiterer Folge entwickelte dieser sich zu einem stattlichen Kirschbaum.
Irgendwann gab es dann auch mich und auch ich entwickelte mich vom Baby zum Mann mit eigener Familie. Dieser Familie ein Heim zu bieten war mein Wunsch, den ich schließlich in die Tat umsetzte. Der Flecken Erde nahe dem Kirschbaum bot sich prächtig dafür an, unsere Behausung hier zu errichten und so stand eines Tages unser schmuckes Domizil neben dem Obstbaum.
Alljährlich bot uns der Kirschbaum reichlich von seinen Früchten und so war ich auch zur Erntezeit stets auf dem Kirschbaum zu sichten.
War es der Übermut oder Unachtsamkeit, ich weiß es nicht, jedenfalls warf mich der Baum zweimal ab. Dass solch ein Sturz aus einem hohen Baum nicht sanft verlaufen kann, ist nachvollziehbar.
Meine Freude mit dem Baum ließ mit zunehmenden Lebensjahren nun merklich nach, denn es wurde für mich immer beschwerlicher, den Baum zu besteigen - er überragte unser Haus inzwischen bei weitem - und auch das in riesigen Mengen anfallende Laub, das mir bis Wintereinbruch stete Betätigung verschaffte, machte mir kein Vergnügen.
Als ich nun eines frühen Wintertages so vor dem Baum stand, mit dem Gedanken ihn in nächster Zukunft zu fällen, schien mir, als ob er klagend seine nun blattlosen Äste hängen ließe. Irgendwie machte der Riesenbaum einen niedergedrückten Eindruck.
Da sah ich meine Mutter vor dem Auge, das Bäumchen im Arm und jäh betrachtete ich den Baum als meinen Bruder. Ich verzieh ihm die Abwürfe aus seinem Geäst, sah dies als Rauferei unter Brüdern, bei der eben einer den Kürzeren zieht.
Nun sind wir nicht nur Brüder, sondern auch Freunde. Ich hole mir Kraft beim Baum, wenn mich die täglichen Anforderungen sehr fordern und führe Gespräche mit ihm. Er hört nicht nur zu, er spricht auch mit mir!